Jesus verbindet Wunden (Lukas 22,47-53)

Es war ein ganz besonderer Tag für Malchus, den Knecht des Hohepriesters. Am Nachmittag hatte sein Herr zu ihm und den anderen Knechten gesagt: „Heute Nacht verhaften wir Jesus von Nazareth.“ Der Hohe Rat war informiert. Sie würden sich in dieser Nacht zu einer Sondersitzung treffen, um das Todesurteil zu fällen. Der Hohepriester hatte alle darauf eingeschworen: „Dieser Unruhestifter muss zum Schweigen gebracht werden. Entweder er stirbt – oder wir gehen alle verloren.“ – Er wusste nicht, wie recht er damit haben sollte.

Am Abend versammelte sich Malchus im Hof des Hohepriesters mit allen Männern, die für die Aktion eingeteilt waren. Sie verteilten die Schwerter und Stangen. Dann gingen sie hinüber zum Prätorium und trafen sich dort mit den römischen Soldaten. Gemeinsam gingen sie durch die Gassen von Jerusalem hinüber zum Garten Gethsemane. Judas war eingeweiht, damit er ihnen allen zeigen sollte, wann der Moment zum Zugriff am günstigsten war – und wer in dieser Nacht auf keinen Fall entkommen durfte.

Sie umstellten die Jünger und ihren Meister. Im Licht der Fackeln erkannte man die bleichen Gesichter nur schlecht. Alle waren vor Schreck erstarrt. Da löste sich Judas langsam aus dem Kreis der Zwölf, ging zu Jesus, umarmte ihn und wollte ihn auf die Wange küssen.

Den Ausdruck auf den Gesichtern der beiden würde Malchus sein Leben lang nicht vergessen. Auf der einen Seite Judas, der Abschied zu nehmen schien von allem, was ihm je wichtig geworden war. Und auf der anderen Seite Jesus, der genau verstand, was in diesem Augenblick vor sich ging.

Alles schien merkwürdig friedlich, doch auf einmal gab es Unruhe unter den Jüngern. Ein blankes Schwert blitzte auf und Malchus spürte den stechenden Schmerz dort, wo noch bis zu diesem Augenblick sein rechtes Ohr gewesen war. Seine rechte Hand fuhr an den Kopf und er spürte, wie er zu bluten anfing. Nur wenige Sekunden später und es wäre ein furchtbares Massaker ausgebrochen.

Doch mitten in die Unruhe hinein rief Jesus: „Halt!“ Und alle gehorchten. Petrus steckte sein Schwert weg. Jesus kam auf Malchus zu und nahm sich Zeit für ihn.

Malchus hatte keine Ahnung, was Jesus da machte, aber die Blutung hörte auf und er wurde wieder gesund. Und er spürte in diesem Moment, wie falsch das war, was er bis eben noch geglaubt hatte. Was hatte dieser Jesus von Nazareth getan, dass er zum Tod verurteilt werden sollte?

Ja, vielleicht war dieser Jesus ein Aufrührer. Aber einer, der den Finger in der richtigen Weise in die Wunden legt. Keiner, der Wunden schlägt, sondern der sie verbindet. Einer, der nicht die anderen in den Tod schickt, sondern der mit jedem Atemzug, mit jedem Handgriff selbst vorlebt, wie wertvoll und kostbar jedes einzelne Leben ist. Der nicht nur für seine Anhänger, sondern auch noch für seine Gegner sorgt.

Und was tat er selbst, Malchus, der Knecht des Hohepriesters, der Diener im Tempel des Herrn? Was war seine Rolle in dieser Nacht?

Bis heute gibt es Menschen wie Malchus und wie Petrus. Unterwegs im Auftrag ihres Herrn, und doch wollen sie die Falschen zum Schweigen bringen.

Vielleicht haben sie selbst mit Gottes Bodenpersonal auch schon ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Eifrige Jünger wie Petrus, die schnell dabei sind, mit schärfsten Argumenten den scheinbaren Feind abzuwehren – und dabei den anderen große Verletzungen zufügen.

Menschen wie Malchus, die meinen, sie dienen Gott und seinem Tempel, wenn sie die scheinbaren Unruhestifter zum Schweigen bringen.

In aufgeheizten Situationen, gerade auch in unseren Gemeinden, hilft der Blick auf Jesus. Wo sich die Parteien gegenüberstehen, hier die einen, da die anderen, unversöhnliche Gegenpositionen, da hilft es sich zu fragen, was Jesus jetzt machen würde.

Ja, es gibt eine Zeit, da muss man mit Jesus auch auf die Tische hauen, die Peitsche nehmen und die falschen Dinge, die sich eingeschlichen haben, aus dem Tempel meines Lebens und aus dem Tempel unserer Gemeinden vertreiben. Wenn wir unser Herz an die falschen Schätze hängen.

Denn Jesus war nicht nur harmoniesüchtig, er kämpfte leidenschaftlich und war schlagfertig. Aber niemals gegen Menschen, sondern für die Menschen. Für den gierigen Zöllner, der alle seine Mitmenschen abgezockt hatte.

Für die Ehebrecherin, der schon die Steine um die Ohren flogen.
Für den Pharisäer, der sein Herz hart wie Stein gemacht hatte.
Für den Schriftgelehrten, der meinte, das Wort Gottes besser zu verstehen als Jesus selbst.
Für die syrische Frau, deren Tochter im Sterben lag.
Für Maria Magdalena, die er von den Geistern befreite, die sie jahrelang gequält hatten.
Für Petrus, der ihn in dieser Nacht dreimal verleugnete.

Und für Malchus, der ihn verhaften wollte.

Jesus kämpft für diese Menschen. Und er verbindet sie. Er sieht die Verletzungen und die wunden Punkte ihres Lebens. Er kennt ihre größte Angst genauso wie ihre größte Sehnsucht. Er verbindet sie mit sich und untereinander.

Mit Vorliebe tat er das sonst bei einem guten Essen und einem guten Wein. Aber in dieser Nacht stiftet er Frieden noch auf eine ganz andere und tiefere Weise. Er geht den Weg in den Tod, damit alle Wunden dieser Welt geheilt werden können.

Jesus sagt: Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist nicht, dass er stirbt. Denn man kann sein Leben verlieren, lange bevor das Herz zu schlagen aufhört.
Jesus sagt: Das Schlimmste ist, dass ein Menschen Schaden nimmt an seiner Seele.
Dass ich meine Bestimmung verfehle.
Dass ich nicht das Leben führe, für das Gott mich eigentlich geschaffen hat.

Und in dieser Nacht, in der wahren und ursprünglichen Stunde des Höchsten, verbindet Jesus das verfehlte, unvollkommene Leben aller Menschen mit dem Leben, das Gottes Willen vollkommen entspricht. Das ist das große Geheimnis des Kreuzes.

Am Kreuz verbinden sich Himmel und Erde miteinander, mein verletztes und gebrochenes Leben verbindet sich in Jesus mit dem neuen Leben, das Gott mir schenken will. Sie verbinden sich dort, wo Jesus mit seinem Geist, mit seinem Wort, immer mehr Raum in meinem Leben gewinnt.

Ich lade Sie heute in diesem Gottesdienst ein, sich von Jesus verbinden zu lassen.
Nicht nur einmal, sondern jeden Morgen neu. Bringen sie ihm die Verletzungen und Brüche ihres Lebens. Erzählen Sie ihm davon im Gebet.

Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung. Falsch verbunden – das gibt es bei ihm nicht.

Denn er will und er allein kann Frieden stiften zwischen meinem Leben und einem Leben nach Gottes Willen.

Und dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre ihre Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen.

Video-Predigt in der Mediathek der „Stunde des Höchsten“ (Ausstrahlung vom 13. Mai 2018)